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Die Wurstfabrik 1901 - 1945
1901 erwarb ein Schlächtermeister das gesamte Gebäude und begann das Quergebäude zur Wurstfabrik
umzubauen. Die räumliche Nähe zum Viehhof an der Eldenaer Straße machte diese Nutzung lukrativ.
Mehrere Räucherkammern und große Wurstkessel wurden eingebaut, die Remise zum Pferdestall
umgebaut.
1910 erwarb der Schlächtermeister Ernst Remané das Gebäude. Remané besaß noch mehrere andere
Gebäude. Die Kinzigstraße wurde jedoch zum Stammsitz der Familie ausgebaut. Bereits im Jahre
1911 ließ er umfangreiche Umbauten am Gebäude vornehmen. Das 1. OG des Vorderhauses und des
Seitenflügels wurde zur herrschaftlichen Wohnung mit großem Salon, Badezimmer und gefliester
Dienstbotenküche umgebaut. Aufwändige Mosaikparkett- und Linoleumböden, teure Linkrusta-Tapeten
sowie neue Deckenstuckelemente wurden in die Wohnung eingebaut. Die Vorderhaus–Treppenräume
wurden vermutlich zu dieser Zeit mit kostspieligen Jugendstilmalereien neu gestaltet. Diese
Malereien sind heute als Nachbildung wieder im Treppenhaus vorhanden. Zur selben Zeit wurden
auch alle hofseitigen Fenster einschließlich der des Quergebäudes mit neuen Jugendstil- Profilen
versehen.
Schon 1910 ließ Remané einen großen Lastenaufzug am Quergebäude montieren. Dieser wurde
vermutlich im 2. Weltkrieg zerstört, seine Lage ist aber heute noch an fehlenden Gesimsteilen
des Quergebäudes zu erkennen. Bis zum 2. Weltkrieg wurde die Nutzung des Gebäudes als
Wurstfabrik immer weiter intensiviert. Bald wurde die linke Hälfte des Seitenflügels in die
Produktionsstätten integriert. Das Quergebäude wurde vom Keller bis unter das Dach mit Kühlräumen
und Räucherkammern versehen, die Kellerräume des Seitenflügels dienten als Schweineställe, die
des Vorderhauses teilweise als Kühl- und Lagerräume. Der große Laden im Vorderhaus wurde zum
geräumigen Verkaufsraum, die Remise zum Schlacht- und Brühraum ausgebaut. Im Hof wurden
zahlreiche Kochkessel, Lagerschuppen und Sickergruben errichtet. Die meisten dieser Ein- und
Umbauten waren illegal, was 1929 die Bauaufsicht zu mehreren Anzeigen veranlasste. Das
Quergebäude erlitt vermutlich zu dieser Zeit durch die zu großen Lasten der Wurstkessel und
stark überdimensionierten Feuerstätten schwere, statisch relevante Bauschäden, welche bei der
Sanierung im Jahre 2000 zu erheblichen technischen Problemen führten.
Die Wohnverhältnisse in der Kinzigstraße 9 waren exemplarisch für die soziale Situation in
Berlin am Beginn des 20. Jahrhunderts. Während die Eigentümerfamilie unter luxuriösen
Verhältnissen ein ganzes Geschoß des Hauses bewohnte, lebten in den anderen Geschossen bis zu
fünf Familien unter extrem ärmlichen Bedingungen. In der Kinzigstraße 9 existierten von Beginn
an so genannte 2-Generationen-Wohnungen, in denen sowohl die Eltern, als auch Tochter und
Schwiegersohn mit Kindern und Großeltern in einer gemeinsamen Wohnung bestehend aus zwei Küchen
und zwei Zimmern lebten. Eine dieser Wohnungen ist heute noch weitgehend im 2.OG des
Vorderhauses erhalten. In einer solchen etwa 60qm großen Wohnung lebten bis zu 12 Personen.
Die Toiletten lagen teilweise in den Treppenhäusern, zum Teil aber auch im Hof. Die hygienischen
Bedingungen in der Kinzigstraße 9 waren katastrophal. Schriftliche Berichte von Mietern der
damaligen Zeit beschreiben, dass es aufgrund der Dampf- und Rauchentwicklung durch die
Wurstfabrik nie möglich war, über den Hof, geschweige denn in den Himmel zu blicken. Einzelne
Wohnungen grenzten direkt an schlecht isolierte Kühlräume und waren dadurch nicht ausreichend
zu beheizen. Das ganze Jahr hindurch wurden die Schlachtabfälle offen im Hof gelagert. Mehrere
Fälle von Tuberkulose sind aktenkundig. Die Gesundheitsbehörden wurden mehrfach in der
Kinzigstraße 9 aktiv.
Über die Verhältnisse im Haus während des Nationalsozialismus ist wenig bekannt. Nachweisbar ist
nur, dass Eigentümer Remané noch in den dreißiger Jahren das gesamte Vorderhaus-Treppenhaus im
expressionistischen Stil der damaligen Zeit neu streichen ließ. Diese Wandbemalung ist in ihrer
aufwändigen Gestaltung die einzige heute in Berlin bekannte, da zu jener Zeit in der Regel nicht
die notwendigen finanziellen Mittel für solche Arbeiten vorhanden waren. Im 2. Weltkrieg wurde
der Dachstuhl des Quergebäudes zerstört. Ansonsten erlitt die Kinzigstraße 9 keine relevanten
Kriegsschäden. |